BILD-Zeitungsartikel
kle: Stacheldraht frei erfunden. Proteste gegen Tambach-Dietharz, in: BILD Thüringen, 03.03.2000, S.3.
Fotografien aus der Zeitungsausschnittsammlung des Flüchtlingsrat Thüringens, 18.05.2021, Emilia Henkel.
Am 02.03.2000 übergaben Asylsuchende dem Thüringer Landtag eine Petition mit der Forderung, die Asylunterkunft am Neuen Haus sofort zu schließen. Im Anschluss daran versammelten sie sich in Gotha auf dem zentralen Marktplatz. Die Gruppe spannte ein großes Banner mit den Worten „Wir leben hinter Stacheldraht“ auf. Sie hatten auch ein Modell dabei, für das sie ihre Unterkunft und den hohen Stacheldrahtzaun darum in Miniatur nachgebaut hatten. Sowohl der Einschätzung der Protestierenden als auch Lokalzeitungsberichten zufolge waren viele Gothaer Menschen berührt von diesem Protest und empört über die Umstände in der Unterkunft, insbesondere über den Stacheldraht.
Am folgenden Tag erschien in der Thüringer Ausgabe der BILD-Zeitung der abgebildete Artikel. Das Autor*innenkürzel konnte von uns bisher nicht auf eine konkrete Person zurückgeführt werden. Der Flüchtlingsrat beschwerte sich noch am gleichen Tag bei der Redaktion über die Falschmeldung und schickte ein aktuelles Foto des Stacheldrahtzauns mit.
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Kommentare
Dieser Artikel ist reißerisch und populistisch formuliert und macht Bemühungen um eine Verbesserung der Situation der Menschen im Flüchtlingsheim Tambach-Dietharz lächerlich. Auffällig ist, dass die Argumentation die gesamte Situation nicht in den Blick nimmt. Sie bezieht sich lediglich auf Ausschnitte der Umstände, ordnet diese nicht korrekt ein und setzt sie in ein Verhältnis zueinander, welches die bestehenden Probleme verschleiert oder gar nichtig wirken lässt. So hängt sich bereits der Titel daran auf, dass es keinen Stacheldraht gegeben hätte und man jederzeit das Lager hätte verlassen können, ohne beispielsweise die extreme Abgeschiedenheit desselben und Kontrolle des Ein- und Ausgangs zu beachten. Ein weiteres Beispiel ist die Darstellung der verfügbaren Fläche von immerhin 120.000 Quadratmetern für 613 Menschen. Dass es nur zwei Wohnblocks für diese gegeben hat, auf denen sich das tatsächliche Leben abspielte, wird zwar erwähnt, jedoch lassen sich dadurch nicht die Probleme des Lebens auf so engen Raum ableiten. Im Gegenteil entsteht der Eindruck, dass diese eigentlich nicht wahr seien. Die UNO-Vertreterin spricht lediglich von einem "überdurchschnittlichen Lager", was das genau bedeutet und dass auch der Durchschnitt der Asylunterkünfte keine annehmbaren Lebensumstände bietet ist dabei ausgelassen worden. Das tatsächliche Leid der hier untergebrachten Menschen wird verschleiert.
Jeder Teilabschnitt des Zeitungsartikels zeichnet ein Bild, welches an sich für sich selbst stehen kann. Der/ die Verfasser:in des Artikels steigt bereits mit merkwürdigen Worten in ein Thema ein, welches in Jahr 2000 als höchst prekär einzuordnen gilt. Wohl am stärksten herauszustellen ist, dass die Position der Thüringer Innenpolitik sowie der leitenden Institutionperson im Artikel überwiegen und wenig Raum dafür lassen, sich mit ausreichenden Gegenpositionen (außer dieser einen zitierten Aussage von Regina Andresen) auseinanderzusetzen. Daher bleibt vorstellig die Frage im Raum, inwiefern dieser Artikel, vor allem mit einem derartigen Umfang, eine allgemeingültige Aussagekraft innehält.
Ich denke, der*die Journalist*in war so rassistisch, dass sie*er nicht mal einen Moment darüber nachgedacht hat, dass die Behauptung der Betroffenen wahr sein könnte und ihre andere Quelle lügen könnte.
Tatsächlich ist aber, wie Emilia schreibt, interessant, dass die Quelle als einzige nicht benannt wird. Vielleicht ist das dem Umstand geschuldet, dass es als nicht lohnenswert empfunden wurde, selber hinzufahren und nachzuschauen, wenn es doch XY schon sagt? Und es aber wichtig war, es als selbst in Augenschein genommene Wahrheit stehen zu lassen, um die Überschrift ohne Gänsefüßchen zu rechtfertigen?
Vielleicht wurde aber auch einfach ganz wissentlich eine falsche Aussage verbreitet. Die Absicht, den Protest durch die gegenübergestellten Äußerungen zu delegitimieren, ist ja offensichtlich und die BILD war und ist ja bekannt dafür, Rassismus anzuheizen.
Mit dem Titel und der Aufmachung des Artikels stellte sich für mich sofort ein Gefühl der Delegitimierung der Proteste ein. Durch bizarre Vergleiche und einer wertenden Sprache werden die Sorgen und Forderungen in Frage gestellt. Die ungleiche Verteilung der zu Wort kommenden Akteure ist ein Beispiel für die Einstellung der journalistischen Arbeit. Der Schluss des Artikels impliziert zudem, dass die Zustände in der Asylunterkunft sogar den Anforderungen der UNO entsprechen, wodurch kein Grund zur Sorge besteht. Beim Betrachten des Filmausschnitts werden die Wortbeiträge noch merkwürdiger.
Offen bleibt die Frage wie so ein Textbeitrag durch die Redaktion gelangen und veröffentlicht werden kann.
Unglaublich, wie der oder die Bild-Journalist*in sowas behaupten kann. Ich Frage mich, ob das Absicht war, oder was für eine Motivation dahinter steckt. Wenn die Falschmeldung erstmal draußen ist, hat sie wahrscheinlich schon ihre Wirkung erreicht.
Auch sonst finde ich den Artikel irgendwie furchtbar, er ließt sich wie in der Schule zusammengekritzelte Stichpunkte. Guter Journalismus würde es erfordern, die Aussage Niemeyers von einer anderen Quelle zu überprüfen. Die mangelnde medizinische Versorgung wird ja in den anderen Quellen angeprangert. Gerade in dieser Reihenfolge "Anklage - Entkräftigung der Anklage" ist schon sehr suggestiv.
Und von den Leuten, die dort leben mussten, kommt mal wieder keiner zu Wort. Um deren Lebensrealität einzufangen hätte es auch eher eine Reportage gebraucht, als so einen oberflächlichen Artikel.
Ich bin ab Juli 2022 nur fünf Kilometer entfernt vom Neuen Haus aufgewachsen. Ich kannte den Ort vom Vorbeiwandern und habe mich immer gefragt, was die großen Gebäude im Wald sollen. Durch Zufall habe ich 2020 bei einer Recherche erfahren, dass dort eine Asylunterkunft war und dann für meine Masterarbeit mehr recherchiert.
Mich überrascht, dass die Bildzeitung mit der Behauptung, es gäbe keinen Stacheldraht um das Lager, eine offensichtlich falsche Behauptung abgedruckt hat. Worauf beruht diese Aussage? Hat das der Heimleiter Eckart Niemeyer gesagt? Es wird im Gegensatz zu der Information über das ärztliche Personal nicht direkt zitiert. Warum sollte Eckard Niemeyer etwas Falsches behaupten, was sich mit einem einfachen Besuch vor Ort und zahlreichen Fotografien widerlegen lässt? Warum hat die Zeitung das nicht überprüft? Dass ausgerechnet der Stacheldraht dementiert wird, bestätigt seine politische Sprengkraft. Der Stacheldraht scheint als als Symbol für die schlechten Bedingungen im Lager besonders gut funktioniert und die deutschen Leute außerhalb des Lagers erreicht zu haben. Das mag daran gelegen haben, dass Stacheldraht ein Element verschiedener Erinnerungen an staatliches Unrecht ist, darunter auch der ostdeutschen Erinnerung an das Grenzregime der DDR. Diese Verbindung hat zum Beispiel auch der Tambacher Pfarrer Großkopp im Interview über das Camp am Neuen Haus gezogen. Für ein Leben hinter Stacheldraht brachten er und viele Menschen der Region aus der eigenen Lebenserfahrung heraus Mitgefühl auf. Etwa zwei Wochen nach den Protesten in Gotha und dem BILD-Artikel wurde zumindest der Stacheldraht auf der Innenseite des Zaun entfernt, auch wenn der oberhalb des Zauns blieb. Das bestätigt die Kraft des Stacheldrahts als Symbol.